Was unterscheidet den waldorfpädagogischen Ansatz von anderen Sprachlehrmethoden?

In seinem grundlegenden Buch1) stellt Alain Denjean im Kapitel "Zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts" fest, dass der waldorfpädagogische Weg, oberflächlich betrachtet, durchaus zwischen den historisch nacheinander aufgetretenen polaren Ansätzen des "Humboldtianismus" und des Sensualismus anzusiedeln sei, also, modern gesprochen, zwischen der rationalistischen Haltung der kognitiven Lernpsychologie und dem Behaviourismus. Denn die menschliche und erzieherische Funktion des Fremdsprachenunterrichts ist der Waldorfpädagogik ebenso sehr ein Anliegen wie die Schulung der Sprechfertigkeit.

Allerdings könne "der Fremdsprachenunterricht nicht isoliert von den anderen erzieherischen Tätigkeiten angeschaut werden", sei er stets "genuiner Bestandteil" jener Erziehungskunst, die der Waldorfpädagoge auf der Grundlage der Gesetze und Bedingungen der menschlichen Entwicklung sich fortwährend neu erwerben muss. Rudolf Steiner hat in seiner "Allgemeinen Menschenkunde" versucht, dafür die anthropologischen Grundlagen zu legen. So könne mit Recht von einem dritten Weg in der Fremdsprachendidaktik gesprochen werden.

Der waldorfpädagogische Ansatz für den Fremdsprachen-Unterricht unterscheidet sich also hauptsächlich darin von anderen, dass er sich am konkreten Schüler und an relevanten, altersgemäßen Inhalten im Rahmen eines Gesamt-Erziehungskonzepts orientiert, das den Menschen nicht nur als körperliches, sondern auch als seelisches und in seinem Kern geistiges Wesen sieht. Auch jeder Sprache selbst wohnt ein Geist inne, der in völkerspezifischen Offenbarungen und in der unterschiedlichen Bilderwelt der einzelnen Sprachen zum Ausdruck kommt. Denjean zitiert aus Steiners Essay "Sprache und Sprachgeist":

"Nun aber leben wir in einem Zeitalter, in dem gegenüber allem Trennenden zwischen Menschen und Völkern das Verbindende bewusst gepflegt werden muss. Denn auch zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, wird das Trennende hinweggeräumt, wenn ein jeglicher in seiner Sprache das Anschauliche erlebt. Es sollte ein wichtiges Element der sozialen Pädagogik werden, den Sprachgeist in den Sprachen wieder zu erwecken."2)


"Wesenszüge des neuen Weges", so ein weiteres Kapitel im erwähnten Buch, formuliert Alain Denjean im Rückgriff auf Rudolf Steiner und seinen Schüler Herbert Hahn:

♦ Frühes Fremdsprachen-Lernen als ein Beitrag dazu, "das Völkerleben auf der Erde beziehungsweise in         Europa wieder zu einem friedlichen Miteinanderleben zu führen"

♦ Ausgleich der Muttersprache durch Fremdsprachen, "der notwendig ist, weil sehr früh das Menschheitliche im Kind durch das Leben in einer besonderen Volksgemeinschaft spezialisiert wird"

♦ Gegenwarts- und Zukunftsbezug des Fremdsprachenunterrichts statt der Vergangenheits-Orientierung der klassischen Methode

♦ Orientierung am konkreten Menschen statt an idealistischen oder pragmatischen Zielen

♦ möglichst fließende Sprechfertigkeit am Ende der schulischen Laufbahn. 


Bei Tobias Richter (Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule) finden wir fünf Ziele für den Fremdsprachenunterricht an Waldorfschulen:

♦ Ausgleich/Ergänzung zu den Denk- und Ausdrucksweisen und der eingeschränkten Weltsicht der Muttersprache (Erweiterung der Erkenntnis)

♦ Verfeinerung des Wahrnehmungsvermögens durch Erleben anderer Laute, Wörter, Bilder, Formen, Stile usw.

♦ Pflege des Laut- und Wortsinns durch genaues Erfassen und Artikulieren der fremdsprachlichen Laute und Intonationsmuster

♦ Erziehung zum Weltbürger (zu aktiver Toleranz) durch Mitwissen, Mitfühlen und innerliches Nachempfinden der anderen Sprachgemeinschaft

♦ instrumentale Beherrschung der Fremdsprache (das „Können“).





1) Alain Denjean, Die Praxis des Fremdsprachenunterrichts an der Waldorfschule. Verlag Freies Geistesleben. Stuttgart 2000

2) Rudolf Steiner, Sprache und Sprachgeist, in: Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart, GA 183, Dornach 1990


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